jag die tür/
chasse la porte


aus postmortaler Serie


Galerie Hubert Winter
Juli 1994

jag die tür

Rauminstallation bestehend aus:

einer Tontaubenschussanlage
1000 Tontauben, zum Teil zerschellt am Boden







die Tontauben tragen die Aufschrift:

c'ést la postmortale, chéri - oui, ma chère, bzw.
c'ést la postmortale, chérie -oui, mon cher

"jag die Tür"
- die Tür als Abstraktion aller möglichen Schwellen, besonders der absoluten Schwelle Tod
- Die Absurdität, eine Tür jagen zu wollen, korrespondiert mit jener, nicht aus seinen eigenen Bewusstseinsschranken herauszugelangen und sie dennoch wahrzunehmen und zu attackieren.

"c'est la postmortale, chérie"
meint jene postmortale Existenz, die sich durch Hingabe/Bejahung eröffnet und im Leben selbst stattfindet. Sie ist also nicht als Zustand zu denken, der dem Tod folgt, sondern als Auslieferung an dessen Bedingungslosigkeit.

"oui mon cher"
- die Hingabe an das Unvermeidliche
bzw. "c'est la postmortale, chéri - oui ma chère"
(das ist die Postmortale, Liebling - ja, mein Teurer/ja meine Teure)



Tontauben
Batterie für Tontaubenschussanlage



Tontauben als Träger von Fluchtgedanken

Herbert Lachmayr, Robert Pfaller
Linz/Wien, Juli 1994

Die "Jagd nach der Tür" beginnt im 20. Jahrhundert spätestens in jenem Moment, als Marcel Duchamp in seinem Pariser Atelier jene legendäre Türe installiert, die derart zwischen zwei Türrahmen angebracht ist, dass man sie nicht öffnen kann ohne sie zugleich zu schließen.
Schon für Duchamp fungiert diese Türe als Denkmodell. Sie versinnbildlicht einen Gedanken über die Struktur des Denkens selbst: nämlich den Gedanken, dass eine Öffnung im Denken möglicherweise immer mit einer Schließung einhergeht.
Das bedeutet zunächst, dass nicht jede Öffnung notwendigerweise eine Öffnung mehr ist. Die Öffnungen lassen sich nicht einfach vermehren, denn manche schließen einander aus. In dieser Form taucht der Gedanke Duchamps bei dem Wissenschaftstheoretiker und -historiker Gaston Bachelard auf. Bachelard schreibt: "Grundloser Optimismus ist insbesondere die Ansicht, Wissen diene automatisch dem Wissen, die Bildung werde umso leichter, je umfassender sie sei, der Verstand schließlich [...] lasse sich wie materieller Reichtum kapitalisieren." (Bachelard 1978: 49)
Dass es "Erkenntnishindernisse", "Konter-Gedanken" (Bachelard) gibt, d. h. Gedanken, die sich nicht nur dem Inhalt, sondern schon der bloßen Entstehung anderer Gedanken widersetzen, beschäftigt in der Folge die Philosophie und die Kunst, insbesondere die bildende Kunst. Alles Denken jagt nun ständig nach der Türe, es versteht sich als Versuch, die Erkenntnishindernisse zu überwinden, der "Geschlossenheit" (Althusser 1972: 70) zu entkommen, einen Ausweg aus dem "Fliegenglas" (Wittgenstein 1980: 309) zu finden. In dieser Tradition bewegt sich Rudolf Macher, beispielweise, wenn er von der "Absurdität" spricht, "nicht aus seinen eigenen Bewusstseinsschranken herauszugelangen und sie dennoch wahrzunehmen und zu attackieren".
Die besondere Rolle der bildenden Kunst bei diesen Fluchtversuchen könnte daher rühren, dass die Theoretiker übereinstimmend das Erkenntnishindernis als Bild bestimmen. "Ein Bild hielt uns gefangen." (Wittgenstein 1980: 115). Wenn das Denken durch Bilder gefangen werden kann, dann kann es sich aber möglicherweise auch nur durch Bilder aus seiner Gefangenschaft befreien: "Ich wollte das Bild vor seine Augen stellen, und seine Anerkennung dieses Bildes besteht darin, dass er nun geneigt ist, einen gegebenen Fall anders zu betrachten (...) Ich habe seine Anschauungsweise geändert." (Wittgenstein, ebd., 144).
Die Vorstellung von einem Denken, das jenseits aller Bilder wäre und gänzlich ohne sie auskommen könnte, muss demnach selbst als ein irreführendes Bild betrachtet werden - als ein Erkenntnishindernis, genau so wie die durch Bachelard kritisierte Vorstellung von einem Wissen, das automatisch dem Wissen dient. Das Denken muss vielmehr durch neue Bilder vorangetrieben werden, es muss sich sozusagen neu materialisieren, um der Schwere einer alten Materialisierung zu entkommen. Das Denken braucht eine bildliche Installierung, damit es eine frühere, bildhaft installierte Vorstellung abschütteln kann. Hierin liegt einer der Antriebe der von Duchamp begründeten Tradition konzeptueller Objektkunst. Die ambivalente Türe musste erst im Atelier angebracht werden, um das komplizierte Verhältnis von Öffnen und Schließen in bezug auf das Denken denkbar werden zu lassen, einen Ausweg aus der (an gewöhnliche Türen angelehnten) Vorstellung von einem nur öffnenden, akkumulierenden Denken zu eröffnen. Nicht selten sind die Objekte dieser Tradition beschriftet, so auch die von Rudolf Macher. Die Inschrift auf dem Objekt hat dabei eine mehrfache Funktion. Sie dient nicht nur dazu, selbst gelesen zu werden, sondern auch dazu, das Ding, das ihren Träger bildet, ebenso als lesbar erfahren zu lassen. Diese Lese-Hilfe durch Schrift ist notwendig, denn die Lesbarkeit der Dinge ist keine unmittelbare. Es gibt hier nicht wie in der Konzeption der Renaissance eine "unmittelbare Lektüre", ein "Lesen im offenen Buch der Natur" (s. dazu Althusser 1972: 16f). Vielmehr ist die Schrift der Dinge eine verschlüsselte Schrift.
Die Dinge bilden, ähnlich wie ein Rebus (vgl. Freud 1961: 234), Kreuzungspunkte mehrerer unterschiedlicher Codes. Einer dieser Codes fordert, "Sachvorstellungen" auf "Wortvorstellungen" zu beziehen, die ihrerseits dann für weitere Wort- und andere Sachvorstellungen stehen können. So kann, wie Freud zeigt, der Platz eines wilden Tieres in einem Traum auf das Wort "Wolf" anspielen, das zugleich auch ein Name ist, der einen gewissen Komponisten bezeichnet (Freud 1961: 285). Ein Mast, der auf einem Foto im Atelier Duchamps zu sehen ist, ist auch ein Wort; es bedeutet im Französischen zugleich "matt" und gehört zu einer Reihe von Vorstellungen, die mit dem Schachspiel zu tun haben (s. dazu Zaunschirm 1983: 26). Tontauben bei Rudolf Macher sind dann mit großer Wahrscheinlichkeit ebenfalls solche sprechenden Dinge, wir sollten ihrem Ton gegenüber nicht taub bleiben. Bei der Botschaft, die sie uns, ähnlich wie Brieftauben, überbringen, dürfte noch ein zweiter Code eine Rolle spielen. Diesem Code zufolge verweisen die Dinge auf andere Dinge, die oft in ihrer Nachbarschaft auftreten oder mit denen sie bisweilen zusammentreffen, sowie auf den Prozess dieses Zusammentreffens. Die Tontauben Machers verweisen gemäß diesem Code auf ihren Flug, auf die Gewehrmunition und auf das Zusammentreffen mit dieser, das Getroffenwerden. Letzteres ist ihnen auch buchstäblich eingeschrieben, und zwar nicht erst von Macher, sondern schon von ihrem industriellen Herstellungsvorgang: an ihrer Unterseite steht reliefartig das französische Wort "battue", das "geschlagen", "geprägt", aber auch "Treibjagd" bedeuten kann. Ein schlichtes Objekt anzutreffen, das schon mit einer französischen Inschrift versehen ist, muss Macher unweigerlich an die ready-mades Duchamps erinnert haben; es könnte auch die Wahl der französischen Sprache bei der Beschriftung durch Macher begünstigt haben.
Mit seiner Beschriftung macht Macher diese bereits vorgefundenen Botschaften der Tontauben lesbar und setzt ihren Text fort. Der von ihm eingeführte Begriff "la postmortale" zieht eine Parallele zwischen der auf das Getroffenwerden und den Tod bezogenen Seinsweise der Tontauben und einer bestimmten, ebenfalls aus Frankreich stammenden Philosophie, der "Postmoderne", deren Thesen - übrigens meist von ihren Gegnern - oft unter den Schlagwörtern vom "Tod des Menschen" oder "Tod des Subjekts" zusammengefasst wurden. Die Haltung, die diese Philosophie diesem sogenannten "Tod" gegenüber einnimmt, zeichnet sich jedenfalls durch eine bestimmte Gelassenheit aus. Es handelt sich für sie nicht um ein Melodrama auf Leben und Tod, mit einer strikten, tragischen Abfolge der beiden. Die "postmortale" ist, wie Macher auch betont, nicht als "Zustand zu denken, der dem Tod folgt". Vielmehr handelt es sich um eine "Existenz, die sich durch Hingabe/Bejahung eröffnet und im Leben selbst stattfindet." In analoger Weise hat J. F. Lyotard darauf hingewiesen, dass auch die Postmoderne in seinem Verständnis nicht das Ende der Moderne ist, "sondern eine andere Beziehung zur Moderne" (Lyotard 1988: 104).
Der Tod kommt in der Konzeption Machers also nicht nach dem Leben, sondern er ist schon da, und man versucht ihm nicht zu entfliehen (wie der Diener in der Parabel vom Tod in Samarkand), sondern begegnet ihm mit wohlwollendem, sogar zärtlichem Entgegenkommen.
Bei der Frage, um wessen Tod es dabei geht, lässt Macher seinen Tontauben natürlich viele Flugrichtungen offen. Neben dem erwähnten "Tod des Subjekts" könnt die Baudrillardsche "Agonie des Realen" anvisiert sein, oder aber auch der "Tod der Kunst", den Gianni Vattimo als ein Projekt der Moderne untersucht, das nunmehr in einem anderen Licht gesehen werden kann( s. Vattimo 1990: 55).
Der zärtliche Ton, den die Bejahung der "postmortale" bei den Tontauben hat, verweist auch auf die Verbindung von Libido und Todestrieb. Das wird nicht zuletzt durch das dialogische Element in der Beschriftung und im paarweisen Auftreten der Tontauben bekräftigt. Indem er immer zwei Tontauben in einer Schachtel seiner Edition verpackt, erinnert Macher vielleicht an den von Jacques Lacan hervorgehobenen Umstand, "dass die Reifung der Geschlechtsdrüsen bei der Taube den Anblick des Artgenossen unbedingt voraussetzt" (Lacan 1991: 65).
Es gibt in den Objekten Rudolf Machers also auch eine bestimmte Heiterkeit, die sich von tragischeren Konzeptionen des Todes absetzt wie ein darauffolgendes Satyrspiel. Und so, wie in einem von Freud zitierten Beispiel einer antiken Traumdeutung (Freud 1961: 92) das Bild eines Satyrs (Satyros) dem Wunsch des die Stadt Tyros belagernden Königs Alexander entspricht, zu hören, dass die Stadt ihm gehöre (Sa Tyros), versteckt sich der Künstler (Macher) augenzwinkernd - vielleicht auch in Erinnerung an Duchamps Koketterien mit der Zweigeschlechtlichkeit - im Kryptogramm seiner Dialogfragmente (ma chère).